3.677 Fälle sexuellen Mißbrauchs durch Geistliche werfen die Frage nach dem Zölibat auf

17.09.2018 - Noch vor der offiziellen Veröffentlichung durch die Deutsche Bischofskonferenz sind Details aus der seit Jahren erwarteten Studie über sexuellen Missbrauch katholischer Geistlicher an Minderjährigen bekannt geworden. Demnach haben sich zwischen 1946 und 2014 insgesamt 1670 Geistliche 3677 sexueller Vergehen an vorwiegend männlichen Minderjährigen und Schutzbefohlenen schuldig gemacht. Zwar steht diese Zahl unter einigen Vorbehalten - doch ein Zusammenhang mit dem Zölibat ist laut Experten nicht von der Hand zu weisen.

Mehr als die Hälfte der Opfer ist nach den Medienberichten, die aus der noch unveröffentlichten Studie zitieren, zum Tatzeitpunkt maximal 13 Jahre alt gewesen, in etwa jedem sechsten Fall ist es zu unterschiedlichen Formen von Vergewaltigung gekommen. Die Zahl der Mißbrauchsfälle und der Täter steht noch unter Vorbehalten. So konnten die Wissenschaftler nur jene Informationen auswerten, die seitens der Bistumsverwaltungen nach einem einheitlichen Schema in den vorhandenen Personalakten enthalten sind. Die  bekanntgewordenen Zahlen markieren daher vermutlich die untere Grenze.

Das Thema sexueller Missbrauch wirft auch die Frage nach dem Zölibat auf, obwohl die Kirche offiziell zumindest einen Zusammenhang bisher nicht erkennen will. Der Berliner Sexualtherapeut und Sexologe Joachim Reich - früher selbst Ordenspriester - bietet ein in Deutschland einmaliges Angebot an: er unterstützt Kleriker bei Problemen mit dem Zölibat. Nach seiner Erfahrung schafften es lediglich 10% der katholischen Kleriker, auf Dauer sexuell enthaltsam zu leben. Der Rest lebe seine Sexualität mehr oder weniger sporadisch, verborgen, anonym oder in Beziehungen. "Sexueller Missbrauch ist kein spezielles Kirchenproblem, sondern eines von pädophilen oder ephebophilen Männern", sagt Reich. Das Problem der Kirche sei es aber, dass Sexualität generell tabuisiert sei und der Zölibat für überdurchschnittlich viele Männer mit einer unfreifen, verdrängten oder gestörten Sexualität zum Vehikel in den Priesterberuf werden kann. Sie glauben: als Pfarrer kann ich meine Sexualität durch Frömmigkeit und viele pastorale Arbeit eindämmen." Allerdings sei das ein Irrglaube, irgendwann breche die Sexualität bei den meisten aus und zwar oft ziemlich abrupt. Dazu komme, dass die Kirche durch ihre feudalen Hierarchien und die Überidealisierung des zölibatären Klerus Strukturen geschaffen und geduldet habe, in denen sich Priester und Bischöfe an Schutzbefohlenen vergehen konnten. "Viel zu lange wurden die Täter, wenn etwas aufflog, gedeckt und einfach nur versetzt, die Opfer nicht ernst genommen oder sogar eingeschüchtert."

Zwei australische WIssenschaftler hingegen haben unlängst herausgefunden, dass der Zölibat durchaus den sexuellen Missbrauch begünstigt. Peter Wilkinson und Desmond Cahil, die beide früher als Priester wirkten, haben in ihrer Studie über die Ursachen sexuellen Missbrauchs von Kindern in der katholischen Kirche umfassend untersucht, ob es Gründe für sexuellen Missbrauch gibt, die im Gesamtsystem der katholischen Kirche weltweit begründet sind - also "systemische Ursachen", heißt es in einer von der RMIT University in Melbourne veröffentlichten Mitteilung. Die beiden Autoren nennen zwei: die große Zahl der von der Kirche betriebenen Waisenhäuser - sowie den Zölibat: "Kinder (...) in Bildungs- und Wohlfahrtseinrichtungen sind einem Risiko ausgesetzt, wenn psychosexuell unreife und/oder sexuell benachteiligte zölibatär Lebende, einschließlich Priester und Ordensleute, zu ihnen Zugang haben", heißt es in dem Bericht. Im Vergleich weisen die Autoren auf eine niedrigere Zahl von Missbrauchsfällen in den katholischen Ostkirchen hin, in denen Priester heiraten dürfen.

Die jetzt durch Vorabmeldungen einiger Wochenzeitungen bekannt gewordenen Ergebnisse der Studie mit dem Titel „Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz“ wurde von einem Forschungskonsortium der Universitäten Mannheim, Heidelberg und Gießen erstellt. Die Deutsche Bischofskonferenz will die Ergebnisse am 25. September auf ihrer Herbstvollversammlung in Fulda vorstellen. Im Rahmen der Untersuchung werteten die Wissenschaftler 38.000 Personal- und Handakten aus 27 deutschen Diözesen aus.

Dabei handelt es sich nicht um ein deutsches Problem. Seit Jahren wird weltweit über sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche diskutiert. Papst Franziskus hatte zuletzt bei einem Besuch in Irland die tausendfachen sexuellen und anderweitigen Misshandlungen von Kindern und Frauen durch katholische Geistliche in dem Land scharf verurteilt. „Wir bitten um Entschuldigung für die Misshandlungen in Irland, den Missbrauch von Macht und Vertrauen, sexuellen Missbrauch durch offizielle Mitglieder der Kirche“, sagte Franziskus.

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